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Crissie erzählt

Der Vibrationsalarm des Handys setzte ein. Es surrte leise und pulsierte unter Crissies Kopfkissen. Sie war sofort hellwach. Nick, ihr kleiner Bruder, drehte sich im Bett über ihr auf die andere Seite. Brummelnd zog er die Decke über den Kopf und igelte sich ein. Crissie blieb ruhig liegen. Fünf Minuten später stand sie auf, zog lautlos die Tür des Gästezimmers hinter sich zu und schlich barfuß in Omas Arbeitszimmer. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schob den Papierkram beiseite und klappte das Notebook auf. Während der Mac hochfuhr, schaute sie auf die Uhr: eine Stunde nach Mitternacht. Das passte. In London war es Punkt null Uhr, die Zeit, zu der sie mit Raymon im Chat verabredet war. Crissie loggte sich ein. Raymon war nicht online. Das war voll daneben, sie selbst betrieb nachts so einen Aufwand, um den Kerl zu erreichen und er kreuzte nicht auf! Na ja, vielleicht hatte seine Bandprobe länger gedauert als geplant.

Sollte sie warten oder zurück ins Bett? Eigentlich musste sie früh raus... Crissie warf einen Blick auf die Chatliste. Einige ihrer Freunde waren in den Ferien extrem nacht-aktiv. Ihre Finger huschten wie von selbst über die Tastatur. Die nächste halbe Stunde verging, auch ohne ein Lebenszeichen von Raymon, rasend schnell. Um kurz vor zwei gab sie auf und schrieb ihm, alias Green Day, eine Message.

Hi Green Day,

war zur verabredeten Zeit hier. Wo steckst du Penner?!? Wir wollten doch noch einiges abchecken. Wichtige Info: Meine voraussichtliche Ankunftszeit in der Liverpool Street ist 12.30 Uhr. Versetze mich nicht, sonst...! Meine Handynummer hast du ja.

See you ...

Es blinkte unten im Eck.

»You have got a new message, Master!«,

krächste der Mac.

Die Computerstimme hallte in Crissies Ohren. Oma wurde wohl langsam schwerhörig. Sie zog den Lautstärkeregler runter und lauschte in die Wohnung. Kein genervtes Schimpfen, kein verdächtiges Geraschel, kein Tapsen von Füßen, nur die vertrauten Nachtgeräusche.

Die Message kam von Aqua.

Hallo! Endlich!

Ich habe diese abgefahrene Animation für dich!

Schau sie dir gleich an. Sei auf alles gefasst. Und bleib cool.

Aqua

Vor ein paar Tagen hatte er sie aus dem Nichts geadded und ohne Punkt und Komma zugetextet. War witzig, Aqua war komplett verquer, typisch Computerfreak. Crissie war gespannt, ob seine Clashanimation echt abgefahren über den Monitor fegte oder ob der Kerl nur kolossal angab.

Sie klickte auf den Starticon. Von links glitt ein blauer Punkt über den Bildschirm. Klein und schillernd. Im Zeitlupentempo wurde er größer. Die Pixel verdichteten sich zu einer Mädchenfigur. Sie trug ein bodenlanges Gothic-Kleid und sah aus wie ein aufgemotztes Model aus einem Dark Wave Katalog, allerdings stimmte die Farbe nicht. Sie schwebte, nein, nicht wirklich, sie floss über den Bildschirm. Ihre blaue Haarmähne war abartig toupiert und wogte bei jeder Bewegung um den schmalen Körper. Sie winkte Crissie mit geschmeidigen Bewegungen heran. Die Oberfläche des Monitors reagierte auf die Geste, kräuselte sich und schlug Wellen. Es sah geil aus, Crissie beugte sich vor und berührte die Schwingungen. Sie fühlten sich echt an. Cool! Konnte aber nicht sein. Crissie strich mit dem Finger über die Animation, die verlor sofort an Dichte, wurde transparent und verschwand im Wellenmeer.

Gischt spritzte auf. Ein äußerst lebendig wirkender Arm schoss aus dem Monitor und packte Crissies Zeigefinger. Wie von einer Tarantel gestochen zog sie ihre Hand zurück und katapultierte das Mädchen aus dem Bildschirm. Dabei häutete es sich, das Kleid und die Haare blieben zurück und ein Ninja-Püppchen in Jeans mit streng zurückgebundenem Zopf baumelte an Crissies Finger. Blitzschnell angelte es sich an Crissies T-Shirt hoch und verschwand in ihrem Haar.

»Heh!« Crissie sprang auf und schüttelte sich. Nichts fiel herunter. Sie sprintete ins Bad und starrte in den Spiegel. Nichts. Sie packte ihre Haarmähne und knetete sie unsanft durch. Auch nichts. Sie klopfte ihren Körper von Kopf bis Fuß ab. Wieder nichts. Das blaue Ding hatte sich in Luft aufgelöst.

Perfekter Trick, allerdings ein Tick zu echt! Sie linste ein letztes Mal an sich herunter. Ihr Blick wanderte nach oben und blieb angenervt an ihrem Spiegelbild hängen.

»Dich kann man leicht an der Nase herumführen«, raunte sie ihm zu. »Nix und niemand schlüpft aus einem Bildschirm. Aqua hat es dir doch gesteckt: Sei auf alles gefasst! Und er hat nicht zu dick aufgetragen. Das Indigomädchen ist geil, so lebendig. Voll peinlich, du hast für einen Augenblick geglaubt, dass die Anima der Cyberworld entwischt ist und an der frischen Luft herumgurkt. Gut, dass es niemand mitgekriegt hat!« Sie wandte sich ab, schlich zurück ins Arbeitszimmer, tippte den Rest ihrer ID unter die Message an Raymon und drückte auf den Absendebutton.

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